Buchkritik

Enttäuschte Liebe: Claire Dederers Buch über „Genie oder Monster“ in der Kunst

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AUTOR/IN
Eva Marburg

Von Harvey Weinstein bis Till Lindemann - die Liste der Männer, die mutmaßliche oder tatsächliche Täter in Missbrauchsskandalen waren, ist lang. Für das Publikum stellt sich vermehrt die Frage, ob diese Kunst noch rezipiert werden sollte oder ob die Täterschaft die Kunst in Frage stellt. Diesem letztlich unlösbaren Problem widmet sich die US-amerikanische Kunstkritikerin Claire Dederer in ihrem neuen Buch „Genie oder Monster. Von der Schwierigkeit, Künstler und Werk zu trennen".

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Weinstein war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte

Sagen wir es gleich: dieses Buch beantwortet Ihnen nicht die Frage, ob Sie noch Filme von Roman Polanski oder Woody Allen sehen dürfen. Der 300 Seiten lange Essay „Genie oder Monster“ ist die persönliche Erkundung einer Kunstkritikerin und Autorin, der bestimmte liebgewonnene Werke plötzlich zum Problem werden.

Das Buch ist über Jahre entstanden: vor dem Hintergrund der #metoo Skandale um Harvey Weinstein und der Wahl Donald Trumps. Weinstein sei der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Ein historischer Moment, in dem das Publikum ein anderes werden würde, eines, das die „Kunstmonster“ nicht mehr hinnehmen wollte.

Der „Fleck“, der plötzlich da ist und das Kunstwerk negativ einfärbt,

„Monster“ ist deshalb der Arbeitsbegriff, der beim Schreiben des Buches für die Autorin zur Linse für ihre Kunstbetrachtung wird. 

Monster bedeutete für mich: Jemand dessen Verhalten unsere Fähigkeit beeinträchtigt, das Werk für sich alleinstehend zu fassen. Monster waren für mich Künstler*innen, die nicht von einem negativen Aspekt ihrer Biografie getrennt werden konnten.

Dederer nennt das den „Fleck“: der plötzlich da ist und das Kunstwerk negativ einfärbt, es entstellt und verändert. Doch wie kommt es überhaupt dazu, fragt sie weiter, dass wir uns bei Verfehlungen von Künstlern moralisch so empören können und Ihr Verhalten geradezu als persönlichen Affront ansehen?

Die Trennung von Künstler und Werk ist laut Dederer vor allem ein emotionales Problem

Das Internet, konstatiert Dederer, hat die Beziehung zur Biografie des Künstlers bekräftigt. Wie niemals zuvor können wir als Publikum uns der Illusion hingeben, mit Personen des öffentlichen Lebens intim verbunden zu sein. Soziale Medien stiften „parasoziale Beziehungen“, so Dederer, bestärken also die irrationale Logik, dass Künstler und Publikum sich kennen, miteinander vertraut sind. 

Auf dieser Ebene entstehen Identifikationen, die anfällig sind für Enttäuschungen und große Emotionen. Die Frage nach der Trennung von Künstler und Werk ist hier also vor allem ein emotionales Problem und da hinkt auch, wie immer mal wieder, die Argumentation in diesem Buch: denn nicht jede Ablehnung eines Künstlers entspringt enttäuschter Liebe. Ich muss kein desillusionierter Fan von Harvey Weinstein sein, um seine Straftaten zu verurteilen. 

Ein Buch über gebrochene Herzen

Trotzdem bleibt das Problem mit der Kunst, die uns nun mal ästhetische Erfahrungen schenkt, auf die wir unterschiedlich reagieren und von der wir uns im besten Fall erkannt und zugehörig fühlen:  

Beim Zusehen großer Kunst überfällt einen dieses Gefühl der Zugehörigkeit geradezu aus dem Hinterhalt. Diese künstlich hergestellte Verbindung kann schöner sein als die Liebe selbst. Und in dieser Hinsicht ist dies ein Buch über gebrochene Herzen.

Picasso und Hemingway: Gewalt als Bedingung künstlerischer Praxis?

Der sich langsam vorwärts tastende Essay entfaltet seine Klugheit in den vielfältigen Erkundungen von enttäuschter Liebe zur Kunst. Er fragt nach dem Geniebegriff und zeigt historisch, dass wir als Publikum gelernt haben, abweichendes und gewalttätiges Verhalten als freiheitliche Bedingung von künstlerischer Praxis anzusehen, wie es bei Picasso und Hemingway der Fall war.

Er fragt nach dem Unterschied von weiblicher und männlicher Monstrosität in der Kunst und wie es kommt, dass bei Männern die Trennung von Künstler und Werk eingefordert wird – das aber bei Frauen nicht der Fall ist. Vor allem nicht, wenn sie Suizid begangen haben, wie Sylvia Plath, oder ihr Kind weggeben haben, wie Joni Mitchell. 

Das Monströse zu sortieren, ist Aufgabe der Kritik

Kunst und das vielfältig Monströse gehen zusammen, sagt dieses Buch – Kunst beherbergt Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und verdrängte Stimmen. Das Monströse zu sortieren, bleibt Aufgabe der Kritik, meint Dederer – mit Liebe sehen und kritisieren, radikal persönlich, mit Wut, Enttäuschung, wenn nötig mit Hass. Nur dann stehen wir den Monstern nicht allein gegenüber.    

Gespräch Till Lindemann und die Groupies: Ein missbräuchliches System?

Unabhängig von den Anschuldigungen der sexuellen Gewalt, steht gegen Lindemann auch der Vorwurf des Machmissbrauchs im Raum. Aber welche Verantwortung hat ein "Star" gegenüber seinen "Groupies"? Anders als im Fall von Julian Reichelt, wo Karrieren auf dem Spiel standen, ist es in diesem Fall schwieriger auszumachen, ab wann man tatsächlich von Machtmissbrauch sprechen sollte. Warum man es tun sollte, erklärt die Soziologin und Journalistin Nadia Shehadeh im Interview mit SWR2.
Nach den vielen mutmaßlichen Zeugenberichten der letzten Tage dränge sich der Verdacht auf, dass Frauen für Sex mit Till Lindemann regelrecht "rekrutiert" würden, so Shehadeh. Allein das sehe sie schon als problematisch an, auch wenn es an sich nicht justiziabel sei. Das Argument, die Frauen wüssten doch, worauf sie sich einlassen, lässt sie nicht gelten. Man müsse deutlich unterschieden zwischen sogenannten Groupies "und einfachen Fans, die sich nichts dabei denken, wenn sie in exklusive Bereiche eingeladen werden - wie eben auch Kayla Shyx."
Shyx, eine junge Influencerin mit etwa 750.000 Followern auf Twitter und Instagram, hatte am Montag ein Video veröffentlicht, in dem sie von ihren eigenen Erfahrungen auf einer Afterafter-Party Till Lindemanns berichtet. Auch sie habe nicht geahnt, worauf das Treffen mit dem Rammstein-Sänger hinauslaufen solle, so Shyx, sie habe sich jedoch immer unwohler gefühlt und deswegen mit einer Freundin - gegen den Widerstand der Lindemann-Crew - die Flucht ergriffen.
"Es ist schon sehr bezeichnend, dass den jungen Frauen, die sich nicht bewusst waren, in welches Setting sie sich begeben, unterstellt wird, dass sie ja genau gewusst oder sogar gewollt hätten, was dort geschieht und so eben auch "Victim Blaming" betrieben wird", kommentiert Shehadeh auf SWR2. An diesem Beispiel zeige sich auch, warum es für mutmaßliche Ofer so schwierig sei an die Öffentlichkeit zu gehen. Oft würde eher dem Star geglaubt, der für viele auch ein Vorbild sei, so Shehadeh. Auch in dieser Hinsicht bestehe ein Machtgefälle zwischen den Fans und ihren Idolen.
Info: 2019 gründete Nadia Shehadeh die "Female Festival Task Force", die sich für die Sicherheit von Frauen auf großen Musikveranstaltungen, auf Festivals und Konzerten einsetzt.

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