Mischung aus Fiktion und Dokumentarfilm

Wenn die Töchter dem IS verfallen – „Olfas Töchter“ legt schmerzhafte Familienkonstellation offen

Stand
AUTOR/IN
Rüdiger Suchsland

„Olfas Töchter“ von der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania ist eine selbstreflexive und herzzerreißende Mischung aus Fiktion und Dokumentation. Erzählt wird die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter und ihrer vier Töchter, von denen sich zwei dem „Islamischen Staat“ angeschlossenen haben.

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Die Regisseurin ergründet die Ursachen der Familientragödie

Das Verschwinden der beiden älteren Töchter der alleinstehenden Tunesierin Olfa liegt zum einen an der Erziehung der Mutter: Sie ist liebevoll, jedoch auch sehr streng. Den Töchtern fehlt der Freiraum und sie sehnen sich nach dem „Anderen“. Zum anderen liegt es an der Indoktrination durch den streng religiösen Islam und dessen Politisierung zum Islamismus.

Olfas Töchter
Die beiden älteren Töchter schließen sich dem „Islamischen Staat“ an. In einer Mischung aus Fiktion und Dokumentation erkundet die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania, wie es dazu kam, und wie die Familienmitglieder auf das Geschehen blicken.

Die verschwundenen Schwestern werden von Schauspielerinnen verkörpert

Die Regisseurin Kaouther Ben Hania engagierte zwei Schauspielerinnen, um die Abwesenheit der verschwundenen Schwestern auf der Leinwand zu kompensieren und nutzt dabei die Kraft des Kinos, um unsichtbare Wahrheiten zu enthüllen und sichtbar zu machen. 

Olfas Töchter
„Olfas Töchter“ erzählt die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter und ihrer vier sehr unterschiedlichen Töchter.

Schmerzhafter Prozess für die Beteiligten

So wechselt die Regisseurin zwischen den rekonstruierten Szenen und den Interview-Aussagen der realen Protagonistinnen. Auf eine Weise ist der Film darum auch Katalysator: Es geht ständig um das Problem, mittels des Films Situationen nachzustellen oder Menschen schmerzhafte Ereignisse wiedererleben zu lassen.

Olfas Töchter
Der Film versucht die Ursachen der schmerzhaften Familienkonstellation aufzuarbeiten und ergründet dabei die Mutter-Tochter-Beziehungen.

Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen

Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen im Verlauf des Films immer wieder: Es gibt Momente, die ohne Vorwarnung von den Figuren, die über eine Szene sprechen, zu der Szene selbst übergehen. Die Nachstellung ist so präzise, dass man manchmal vergisst, dass die beiden Schauspielerinnen nicht die Schwestern der Protagonisten sind.

Filmstill des Films "Olfas Töchter"
Durch den Einsatz von Schauspielerinnen, die die verschwundenen Schwestern verkörpern, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion immer wieder.

Härte der Mutter ist Produkt eines patriarchalischen Systems

Der Film urteilt nie über Olfa und ihre Entscheidungen. Während die Töchter und Schauspielerinnen ihre Meinungen teilen, lässt Regisseurin Kaouther Ben Hania erkennen, dass die Härte der Mutter oft das Produkt jahrelanger Traumata sowie eines patriarchalischen Systems ist. Dadurch hat sie viele Werte und Verhaltensweisen entwickelt, die letztlich ihren Töchtern geschadet haben.

Olfas Töchter
Das Verschwinden der beiden älteren Töchter ist unter anderem in der strengen Erziehung der Mutter begründet.

Die schwere Thematik wird mit Sensibilität behandelt

„Olfas Töchter“ ist großartiges und originelles Dokumentarfilmkino, das mit Hilfe des Films das Leben einer ganzen Familie rekonstruiert und versucht, die systemischen und sozialen Ursachen zu erklären, die zur Tragödie führen.

Olfas Töchter
Die beiden jüngeren der vier Töchter leben noch bei Mutter Olfa.

Trotz des schweren Themas behandelt die Regisseurin den Stoff ihres Films auf eine erträgliche und verdauliche Weise – mit viel Menschlichkeit, Sensibilität und sogar einer Dosis Humor. 

Trailer zum Film „Olfas Töchter“:

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